Warum tagsüber fahren, wenn man auch nachts fahren kann?

Abendlicher Pausenstopp auf der Zeche Zollverein Essen
Abendlicher Pausenstopp auf der Zeche Zollverein Essen

Von der Faszination des Rennradfahrens in der Dunkelheit

Dienstag, November, 19:07 Uhr, 1:59 Stunden und 42,8 km seit Start: vier Grad Celsius, 8% Steigung zum Langenberger Sender, die Kollisionswarnlichter der beiden Antennen geben schon seit einer halben Stunde die generelle Fahrtrichtung vor, die pechschwarze Straße vom Headlight rennradgerecht ausgeleuchtet, eine Kurve und – da, mitten auf dem Weg, 5 m vom Vorderrad entfernt – steht EIN FUCHS – ein Bild wie aus dem Märchenbuch, nur ohne Gans. Ebenso verdutzt wie dieser ihn, betrachtet der Fuchs den nächtlichen Radfahrer, Kamera rauskramen, jedoch: der Fuchs steht heute Abend für ein Foto Shooting nicht zur Verfügung, sondern verzieht sich kopfschüttelnd ins Unterholz – noch rund 60 km to go, Schnitt aktuell 23,8 km/h – Ankunft in Düsseldorf voraussichtlich 21:45 Uhr.

Szenenwechsel: Industrieromantik

Mittwochabend im Dezember, ein Bergmannsviertel im nördlichen Ruhrgebiet, 51,3 km seit Start: beleuchtete Döner Bude, Spielothek, Straßenbahnschienen, eine Tankstelle, die Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge spiegeln sich in der feuchten, von Schlaglöchern zernarbten Fahrbahn – nächtliche Tristesse. Das Navi sagt „rechts ab“. Unerwarteter Eintritt in eine andere Welt: perfekter Asphalt, Bäume und Sträucher säumen die zum Radschnellweg umgewidmete Bahntrasse, ab hier 12 km schlaglochfreies, autofreies, kreuzungsfreies, ampelfreies, zügiges Fahrvergnügen. Gitterbrücken, über die früher Güterzüge gerattert sind, stehen jetzt exklusiv dem nicht-motorisierten Verkehr zur Verfügung und werden für ihn instandgehalten. Strukturwandel zum Anfassen.

Rauf zum Tetrader

Einige Kilometer weiter – zunächst nur schemenhaft – zeichnet sich der langgestreckte Rücken der Halde an der Beckstraße, kurz Tetraeder ab, immer näher, immer höher, immer dunkler. Die Trasse endet am Fuße des Abraumbergs, ein Baugitter verwehrt den Eingang zum Tunnel – rechts und links führen Wege um das künstliche Landschafts-Monstrum herum.

Kurzer Selbst-Check: reichen die Energiereserven noch für eine nächtliche Bergwertung? Was soll’s – auf geht’s, die Halde hoch! Es ist der einzige echte Anstieg auf dieser Tour, und er gestaltet sich fieser als gedacht, die Steigung tatsächlich unterschätzt, dafür entschädigt ein grandioser Rundblick über das Lichtermeer der Siedlungen, Industrieanlagen und Verkehrswege der Metropolregion. Schnell wieder runter, bevor der Körper auskühlt. Eine Kurve weiter öffnet sich das Gelände der stillgelegten Zeche, die diesen Abraumberg in jahrzehntelanger Kleinarbeit Lore für Lore hervorgebracht hat. Ein gut erhaltenes Fördergerüst, umgeben von halbverfallenen Maschinengebäuden zeugen von den besseren Zeiten dieses Ortes – einige erwachsene Jungs cruisen mit ihren Spoiler-bestückten Fahrzeugen, die einst für biedere Familienväter als Premiumfahrzeuge vom Band rollten, zu bullernden Bass-Rhythmen zwischen den Ruinen der Industriebrache herum. Keine Mädels weit und breit, die man damit beeindrucken könnte… Apokalyptische Industrieromantik in the middle of nowhere und ein perfekter Ort für einen Foto- und Verpflegungsstopp, bevor es im gestreckten Galopp nach Hause geht. Mittlerweile hat sich das Bild einer dampfenden Badewanne als fixe Idee im Kopf festgesetzt, die Erwartung beflügelt den Ritt.

Ist das noch normal, warum macht man das?

Es sind diese und ähnliche Szenen, die die Faszination des Rennradfahrens nachts und in Dunkelheit ausmachen. Wer der Population der „normal“ arbeitenden Bevölkerung angehört und üblicherweise nicht vor 17:00 Uhr aus dem (Home) Office kommt, unter der Woche mindestens eine 100 km Ausfahrt unternehmen möchte, über die notwendige Sturheit verfügt, diese Gewohnheit ganzjährig durchzuziehen – rain or no shine – wird in der dunklen Jahreszeit automatisch und beinahe zwangsläufig zum Nacht-Radfahrer.

Neben einer gewissen Affinität zu nächtlichen Unternehmungen, die in ihrem Ursprung bis zu den Nachtwanderungen im Pfadfinderlager zurückreicht, einer Resistenz oder zumindest Leidensfähigkeit gegenüber Kälte und Regen, bilden gute Vorbereitung und handfestes Equipment wichtige Erfolgsfaktoren für eine gelungene Nachtradfahrt.

Nachtfahren, das bedeutet: durch die Straßen radeln, die Sinne hellwach, während die anderen bereits im Fernsehsessel wegdämmern. Sicher, es erfordert eine Portion positiven Irrsinns – aber das Erfolgserlebnis, den inneren Schweinehund besiegt, es den Elementen wieder einmal gezeigt und der Dunkelheit die Stirn geboten zu haben, ist die Mühe wert. Ganz nebenbei halten solche Aktionen fit und garantieren im Anschluss einen tiefen, traumlosen und gesunden Schlaf.

Fünf Tipps für die erfolgreiche nächtliche Ausfahrt

  1. Safety first – no stunts: bekannte Strecken aus dem persönlichen Segmente-Portfolio so zu einem Track kombinieren, dass die schnelleren Passagen gut und sicher im Dunkeln zu befahren sind, d.h. keine zu steilen Gefälle, guter Straßenbelag, weite Kurvenradien
  2. Take it easy: Rekordgeschwindigkeiten anpeilen führt zu nichts. In Einzelfällen wird es vielleicht möglich sein, PRs zu realisieren, denn die Straßen sind nachts i.d.R. frei und viele Ampeln abgeschaltet, aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse ist eine defensive Fahrweise Pflicht. Nachts heißt es: „vergiss‘ den Schnitt…“
  3. Licht – Licht – Licht und nochmals Licht: helle und zuverlässige Frontbeleuchtung mit langer Akkudauer ermöglichen erst ein sicheres Fahrvergnügen im Dunkeln. Idealerweise weist die Lampe ein super-helles Fernlicht auf, um schlecht einsehbare Abschnitte gut auszuleuchten und sich als Radfahrer an Kreuzungen deutlich sichtbar anzukündigen. Eine Stirnlampe kann sinnvoll ergänzen. Apropos Sicht: die hochwertigste Radbrille nutzt bei der Nachtfahrt nichts, wenn sie getönt ist. Alternativen bilden hier preiswerte glasklare Arbeitsschutzbrillen.
  4. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung: erst mit der richtigen, auf die jeweiligen Witterungsbedingungen abgestimmten Kleidung kommt bei Nachtfahrten der Fun-Faktor auf. Dazu zählen Winter-Radschuhe, Thermo-Überschuhe, gefütterte, wasserabweisende bzw. regendichte Handschuhe, Langarm Baselayer, winddichte, atmungsaktive Jacke, warme Socken, notfalls zwei Paar übereinander. Es schadet nicht, noch einen Extra-Layer im Gepäck zu führen – denn es wird auf nächtlichen Ausfahrten fast immer kälter als man denkt.
  5. Utensilien: neben der üblichen Rückentaschenbeladung bestehend aus Schlauch, Werkzeug, Handy und Energieriegel / Banane etc. sollten nachts zusätzlich mitgeführt werden: Powerbank (die Kälte setzt den Akkus zu) und Taxi-Geld, denn nicht jede Reparatur gelingt im Schummerlicht der Straßenlaterne oder unter Sternenhimmel. Der Profi berücksichtigt bei der Routenplanung Exit Möglichkeiten (z.B. S-Bahnstationen) und legt sich Abkürzungen zurecht, die er bei Bedarf ziehen kann. Empfehlenswert ist, sich zuhause eine Fahrbereitschaft im Stand-by zu halten, die bei Bedarf ausrücken kann, um den gestrandeten Nachtradler einzusammeln (aufgrund Murphy’s Gesetz muss von einer solchen Option immer dann kein Gebrauch gemacht werden, wenn man sie gut organisiert hat – und umgekehrt)

Spätschicht: drei Tracks zum Nach(t)fahren

Die Elfringhauser Schweiz bildet das bevorzugte Jagdrevier des Autors. Dabei handelt es sich um die für Düsseldorfer Verhältnisse an Höhenmetern reiche und idyllische Landschaft im Quadranten Neviges, Langenberg, Hattingen, Sprockhövel, Wuppertal. Die beiden nachfolgenden Tracks sind zentriert um zwei Highlights der Miniatur-Schweiz: den kurzen, aber mit 17% Steigung knackigen Aufstieg zum Höhenweg und Langenberger Sender sowie die „klassische“ E’Schweiz Uphill Querung via Felderbachstraße. An dieses Jagdgebiet heranpirschen kann man sich u.a. über Erkrath (Variante Süd) oder über Ratingen und Essen-Werden (Variante Nord).

Track 1: Elfringhauser Schweiz, Variante Süd (Erkrath) https://www.komoot.de/tour/309214264

Track 2: Elfringhauser Schweiz, Variante Nord (Werden) https://www.komoot.de/tour/309214572

Bahntrassen weisen ideale Voraussetzungen für Nachtfahrten auf. Sie sind weitgehend flach, verfügen über weite Kurvenradien und sind auto-, ampel- und kreuzungsfrei. Das Netzwerk der ehemaligen Zechenbahnen im Ruhrgebiet bildet ein wahres El Dorado für den ambitionierten Bahntrassen-Radler. Somit ist der nachfolgende Track nur ein Beispiel von vielen, wie sich Bahntrassen und Industriedenkmäler im Ruhrgebiet zu einem aufregenden Strecken-Cocktail kombinieren lassen. Startpunkt des hier vorgestellten Tracks ist der Campus Mülheim der Hochschule Ruhr West (Anreise z.B. mit der S-Bahn bis Duisburg oder Mülheim Styrum), Highlights entlang der Strecke sind u.a. der attraktive Radschnellweg RS 1, das Weltkulturerbe Zeche Zollverein, die Erzbahntrasse mit ihren interessanten Brückenkonstruktionen rund um die Jahrhunderthalle Bochum. In südwestlichem Bogen führt der Weg dann aus dem altindustriellen Gebiet heraus über Dahlhausen an den Baldeney See und von dort zum Zielort Düsseldorf.

Track 3: von Mülheim über Bahntrasse vorbei an der Zeche Zollverein, Jahrhunderthalle Bochum und dem Baldeneysee

https://www.komoot.de/tour/309214735

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